Von der Haustür zum Berninapass
Tourdaten
- Weglänge: 145 km
- Höhendifferenz: ↑↓ 3380 Hm
Routenbeschreibung
Vor zwei Tagen hatte sich unsere Wanderung im Engadin als erfolgreiche Flucht vor der Sommerhitze erwiesen. Die Postkartenidylle wurde allerdings vom Touristenrummel an den einschlägigen Hotspots entlang der Strecke wie Morteratsch, Diavolezza usw. etwas getrübt.
Beim Anblick vom Kontrast zwischen den Menschenmassen auf den Bahnhöfen und den nebenan flott dahinfahrenden Bikefahrern kam mir schon damals die Idee, nochmals hierher zurückzukehren. Dann allerdings aus eigener Kraft und möglichst ohne das Sitzen im vollen Zug. Da einige hohe Bergketten zwischen mir zuhause und dem Engadin liegen, erschien dies allerdings eher als Unternehmen der Kategorie "wahnwitzige Mammuttour".
Heute war erneut schwüles Sommerwetter mit Gewitterwarnungen für den Nachmittag angesagt. Nachdem ich deshalb am Vortag schon vor einer längeren Exkursion auf dem Bike zurückschreckte, das Wetter dann aber den ganzen Tag über schön und sonnig blieb, wollte ich mich nicht nochmals von den ersten kleinen Wolken am Horizont abhalten lassen. Die Idee von neulich kam mir wieder in den Sinn und ich beschloss, mich vorerst einmal Schritt für Schritt ins hoffentlich kühlere Engadin auf den Weg zu machen, auch wenn ich "nur" bis nach St. Moritz kommen würde.
Von Filisur über den Albulapass
Ich machte mich mit dem Gravelbike also wieder einmal auf die Abfahrt nach Alvaneu Bad hinunter und kurbelte von dort über Filisur, Bergün, Preda am Lai da Palpuogna vorbei zum Albulapass hinauf. Es war warm, der Puls war schon auf flacher Strecke bei Filisur ungewöhnlich hoch und ich überlegte mir schon, wie weit ich unter diesen Umständen wohl kommen würde. Ich fuhr einfach stetig weiter, während die Begegnung mit jedem bekannten Wegpunkt auf der Strecke – dem Kopfsteinpflaster im Dorfzentrum von Bergün, dem Bahnhof von Preda, dem Lai da Palpuogna – mir wieder erneut etwas Auftrieb im Hinblick auf die Passhöhe gab. Dort oben angekommen, wehte ein kühler, erfrischender Wind und auch in Richtung Engadin zeigte sich der Himmel nach wie vor von seiner besten sonnig-blauen Seite. Derart motiviert, machte ich mich auf die genussvolle Abfahrt vom Albulapass nach La Punt und kam ziemlich entspannt und vom kräftezehrenden Aufstieg erholt dort unten an.
Durchs Engadin nach Punt Muragl
Die nächste Etappe führte von La Punt auf dem Inntal-Radweg in Richtung St. Moritz, wo dann noch vor St. Moritz die Entscheidung für die Weiterfahrt dorthin oder aber für das Abbiegen in Richtung Pontresina anstehen würde. Auf der schönen Strecke am Ufer des Inn entlang, am kleinen See Lej da Gravatscha und dem Flugplatz Samedan vorbei bis zum Verzweigungspunkt bei Punt Muragl herrschte heftiger Gegenwind. Dieser hatte mir schon bei meiner ersten Biketour ins Engadin im letzten Jahr zu schaffen gemacht. Mit dem Gravelbike konnte ich mich diesmal gefühlt etwas aerodynamischer durch den Gegenwind bewegen. Ich erreichte Punt Muragl ohne übermässige Kraftanstrengung und beschloss, nach Pontresina weiterzufahren.
Von Punt Muragl zum Berninapass
Weiter ging es über offene Felder zum Bahnhof von Pontresina, dort über eine Umleitung in den Ort hinein, bei Surova wieder zurück zum Waldrand und auf einen breiten Radweg südlich der Bahnlinie vom Bernina-Express entlang. Ich erreichte als Nächstes den Bahnhof und Campingplatz von Morteratsch, einem wahren Tummelplatz für Ruhesuchende am heutigen Tag. Von hier aus starteten wir schon einmal zu unserer Wanderung zur Bovalhütte SAC. Alternativ zu diesem Hüttenweg führt auch ein breiter Schotterweg taleinwärts zur Gletscherzunge des Morteratschgletschers. Ich folgte diesem Weg noch einige Hundert Meter, um ein Foto der Berninagruppe machen zu können.
Danach kehrte ich zum Campingplatz zurück und fuhr weiter bis zur Einmündung in die Bernina-Passstrasse. Ich befand mich schon seit Punt Muragl tiefer im "Neuland", als ich jemals auf zwei Rädern im Engadin vorgedrungen war. Ich beschloss, jetzt nicht aufzuhören und nun den Aufstieg zum Berninapass in Angriff zu nehmen. An der Passstrasse gab es kurz nach dem Campingplatz einen Aussichtspunkt mit dem passenden Namen Montebello, der einen einzigartigen Ausblick auf den Morteratschgletscher und auf die Gipfel der Berninagruppe bot. Mehrmals bin ich hier schon im Bus oder im Zug vorbeigefahren und brachte in den wenigen Sekunden der Durchfahrt bis jetzt nie ein brauchbares Bild von diesem vielfotografierten Panorama zustande. Heute konnte ich hingegen erstmals an der Stelle anhalten und den Ausblick in Ruhe geniessen.
Die Passstrasse zog sich im weiteren Verlauf lange mit mässiger Steigung dahin. Das Hauptproblem war erneut ein aufkommender Gegenwind, aber ich kam gut voran. Als Ansporn und nächste Etappenziele waren zudem die Seilbahnanlagen von Diavolezza und Lagalb schon von weitem zu sehen.
Die Ankunft bei der Talstation der Diavolezza-Bahn erzeugte ein etwas kurioses Gefühl, nachdem wir erst 48 Stunden zuvor von hier aus nach einer aufwändigen Hinfahrt im Zug zu unserer Wanderung zum Lej da Diavolezza aufgebrochen waren und ich heute stattdessen mit dem Gravelbike am genau gleichen Ort stand. Im Bewusstsein, dass es von hier aus nicht mehr weit bis zum Berninapass sein würde, machte ich mich daran, die letzten paar Kilometer und Kurven bis zum Bernina-Hospiz und noch etwas weiter zur Passhöhe dahinter anzupacken.
Auf dem Berninapass war meine Freude gross, es erstmals aus eigener Kraft mit dem Bike auf einen weiteren Alpenpass geschafft zu haben. Ich genoss den Blick vom Pass ins noch nie entdeckte Puschlav und zur Grenze nach Italien hinunter. Gleichzeitig musste ich jetzt aber entscheiden, wie es weitergehen sollte. Folgende Optionen kamen mir spontan in den Sinn:
- Abfahrt nach Poschiavo und am Lago di Poschiavo vorbei bis nach Tirano jenseits der Grenze mit anschliessender Rückfahrt von Tirano mit dem Zug;
- Abstecher zur Forcola di Livigno, ebenfalls an der Grenze und rund 7 km und 300 Höhenmeter von hier entfernt, mit Rückkehr zum Berninapass;
- Wie 2), aber mit Weiterfahrt nach Livigno und am Lago di Livigno vorbei zum Punt da Gall, von dort mit dem Bikeshuttle durch den (für Bikes gesperrten) Tunnel zurück in die Schweiz und über Zernez irgendwie wieder nach Hause;
- Rückkehr vom Berninapass über Morteratsch nach Pontresina, aber diesmal auf dem Mountainbiketrail Nr. 673 ("Bernina-Express") durchs Gelände statt auf der Passstrasse.
Ich ging auf der Passhöhe für einige Zeit in mich und entschloss mich dann für Variante 4). Einerseits bestand immer noch die Möglichkeit von späteren Gewittern. Ich hielt es zudem für besser, die Themen "Livigno" und "Tirano" in eigenständige Abenteuer zu verpacken. Auch hatte ich bei dem regen Ausflugsverkehr und der Erinnerung an die überfüllten Züge von vorgestern immer noch überhaupt keine Lust auf Zugfahrten heute. Die Abfahrt mit dem Gravelbike zwischen all den Mountainbikern auf dem Biketrail würde hingegen sicher eine spannende Sache werden.
Vom Berninapass zurück ins Oberengadin
Den oberen Teil des Trails vom Bernina-Hospiz bis zur Staumauer des Lago Bianco hatten wir neulich schon zu Fuss begangen und ich wusste, dass er sehr verblockt war. Ich fuhr daher zunächst auf der Strasse wieder zum Hospiz hinunter und kurz danach auf einem Zufahrtsweg direkt zur Staumauer. Ab hier war der Trail für mich leichter befahrbar und ein wahres, wenn auch auf kurzen Abschnitten holpriges Vergnügen. In der weiten Flussebene der Ova da Bernina bis Lagalb und Diavolezza kam ich zügig vorwärts und musste das Bike nur an einzelnen verblockten steilen Stellen kurz hinuntertragen. Zum grössten Teil war der Weg aber ein Schotter- und Singletrail mit flachem Gefälle und führte dem rauschenden Bach und der Zuglinie in einiger Entfernung von der Passstrasse entlang.
Vor Morteratsch stand dann eine steile Geländestufe bevor. Der Trail stieg hier wieder etwas steiler und verblockter zum Campingplatz ab. Ich umging diese Stelle, indem ich noch oben bei Pro Nuov auf einer Brücke zur Passstrasse zurückkehrte und diese dann unten beim Campingplatz wieder verliess. Danach ging es am Bahnhof von Morteratsch auf der Strecke vom Hinweg zurück. Dank des leichten Gefälles kam ich sehr schnell und energiesparend wieder in Pontresina und Punt Muragl an.
Über den Albulapass nach Hause
Bei Punt Muragl stand erneut die Frage an, ob ich nach St. Moritz weiterfahren und mit dem Zug über Filisur heimkehren sollte. Ich fühlte mich aber immer noch relativ gut und beschloss, stattdessen die Rückkehr über den Albulapass – zum ersten Mal in der Gegenrichtung von La Punt aus – zu versuchen. Ein Problem war allerdings, dass mein Wasservorrat inzwischen aufgebraucht war, ich von Morteratsch bis jetzt an keinem Brunnen weit und breit vorbeigekommen war und ich den Albulapass ohne Wassernachschub selbstredend gleich vergessen konnte. Ich musste tatsächlich noch einige Kilometer bis Bever bange Ausschau halten, bis ich endlich meinen Trinkbeutel und mich selber wieder bis zum Rand auffüllen konnte.
Der zweite Aufstieg des Tages zum Albulapass begann mühsam auf den ersten steilen Kurven von La Punt aus. Der Bikecomputer war wieder auf verbleibende Distanz und Höhenmeter eingestellt und beide Zahlen schienen nicht vom Fleck zu kommen, während ich im Schneckentempo im grellen Gegenlicht der Nachmittagssonne hochkurbelte. Bei der Alp Alesch war ich schon ziemlich angezählt und zum Glück folgte bald danach der flachere obere Teil der Passstrasse durch die Val d'Alvra. Erschöpft erreichte ich dann endlich die Passhöhe und gönnte mir eine Erholungspause, um die kurvenreiche Abfahrt nach Preda und Bergün dann wieder mit der gebotenen vollen Konzentration in Angriff nehmen zu können.
Die Abfahrt war sehr schön; auch war um diese Zeit nicht mehr viel Verkehr zum Pass unterwegs. Auch der Lai da Palpuogna sah um diese Tageszeit noch schöner und kitschiger als in der Mittagssonne zuvor aus. Bei Bellaluna wollte ich die Hauptstrasse eigentlich verlassen und stattdessen auf dem Waldweg nach Filisur fahren. Leider war dieser aber wegen dem kürzlichen Hochwasser immer noch gesperrt und so fuhr ich wieder auf der Strasse weiter. Beim Biohof Las Sorts zweigte ich dann endgültig ab, packte noch Käse und Eier vom Hofladen ein und fuhr über Zinols am Albulafluss entlang weiter nach Alvaneu Bad. Über den letzten verbleibenden Aufstieg von hier bis nach Alvaneu Dorf und nach Hause kroch ich nur noch im Schneckentempo hoch; weit über 100 km und 3000 Höhenmeter waren inzwischen zusammengekommen, aber für dieses grossartige Erlebnis heute hatte sich heute jede Mühe gelohnt.