Nach Italien ins Valle di Lei

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Ausgangspunkt

Zillis, Parkplatz bei der Kirche.

Tourdaten

  • Weglänge: 73.2 km
  • Höhendifferenz: ↑↓ 1730 Hm

Routenbeschreibung

Um nach Italien zu fahren, muss man nicht unbedingt die weite Anfahrt durchs Tessin oder schon nur über den Splügenpass auf sich nehmen. Von mir zuhause aus gesehen ist das Val Ferrera (hinter Andeer und Zillis gelegen) wahrscheinlich der geografisch nächste Punkt vom Grenzverlauf zwischen der Schweiz und Italien. Zillis war schon mehrmals mein Ausgangspunkt für Biketouren in der Umgebung, zum Sufnersee oder zu besagtem Splügenpass. Vom grossen Parkplatz am Ortseingang startete ich daher auch zu meiner heutigen Italienreise.

Das Val Ferrera führt tief hinein ins noch entlegenere Tal von Avers zur gleichnamigen höchstgelegenen Gemeinde der Schweiz. Die Fahrt nach Avers allein wird sicher noch ein Tourenziel für einen anderen Tag werden. Heute interessierte mich aber nur eins: das einsam gelegene Valle di Lei auf italienischem Staatsgebiet, von einer Abzweigung auf der Strasse hinter dem Dorf Innerferrera im Val Ferrera zu erreichen. Dieses Tal diente früher der Alpwirtschaft, bis es in den 1960er-Jahren zu einem Stausee geflutet wurde. Das eigentliche Kuriosum ist aber, dass die Staumauer noch auf Schweizer Territorium liegt, der ganze restliche Stausee dahinter aber bereits zu Italien gehört. Somit müsste hier also eine Biketour in Italien möglich sein, ohne im eigentlichen Sinn nach Italien reisen zu müssen.

Von Zillis ging es zunächst wieder gemütlich dem Hinterrhein entlang nach Andeer, dann ansteigend zum Stausee und Kraftwerk Lai da Seara bei Bärenburg und am Gasthaus Roflaschlucht vorbei. Fuhr ich hier bisher immer weiter in Richtung Roflaschlucht und Sufner See, bog ich heute erstmals in Richtung Val Ferrera und Avers ab. Der folgende, lange Strassenabschnitt nach Ausserferrera und Innerferrera mit einem weiteren kleinen Stausee war landschaftlich spektakulär und auch sehr wenig befahren. Von der Strasse aus hatte man ständig einen eindrücklichen Ausblick auf den türkisblauen Ragn da Ferrera, der tosend zwischen riesigen Felsblöcken und teils schluchtartig hinab in den Hinterrhein floss.

Die Schlucht schien den Wohnmobilen nach zu urteilen sehr beliebt bei Campern und Felskletterern zu sein. In Ausserferrera konnte man zudem "Crash Pads" beim Restaurant mieten.

Nach Innerferrera ging es nochmals durch zahlreiche Felsgalerien, einige Tunnels und über eine imposante Brücke mehrere Kilometer lang weiter ins Tal hinein. Beim Punt di Val di Lei war eine weitere Brücke über einen reissenden Seitenbach zu überwinden. Ich realisierte dies nicht vor Ort, aber dies war die Stelle, an der der Reno di Lei aus dem Stausee im weit dahinter liegenden Valle di Lei – meinem heutigen Tourenziel – floss und auch die italienische Staatsgrenze praktisch auf dieser Brücke mit der Schweiz zusammentraf. Von hier aus ging es noch rund anderthalb Kilometer auf der Strasse weiter bis zur einer Kreuzung, an der die asphaltierte Bergstrasse zum Valle di Lei und zum Stausee abbog.

Diese Zufahrtsstrasse führte in angenehmer Steigung hangaufwärts zu Eingang eines Tunnels, der das darüberliegende Bergmassiv auf einer Länge von rund einem Kilometer durchquerte und auf der anderen Seite direkt auf der Mauerkrone des Stausees im Valle di Lei mündete. Ich hatte den Weg durch den Tunnel jedoch für die Rückfahrt vorgesehen. Auf dem Hinweg wollte ich das Tal über einen Saumpfad erreichen, der kurz vor dem Tunnelportal abzweigte und hinauf bis zum Passo del Scengio (deutsch "Furgga") führte.

Die ersten 200 Meter auf dem Saumpfad sahen für mich und mein Gravelbike beängstigend aus. Verblockt, wurzeldurchsetzt und mit einer auf diesem Untergrund nicht lange auszuhaltenden Steigung ging es durch den Wald aufwärts. Einige von oben herab kommende Wanderer beäugten mich und meine holprigen Fahrkünste zudem ziemlich skeptisch, was auch nicht gerade die besten Aussichten erahnen liess.

Zu meinem grossen Glück ging die anfängliche Steigung jedoch kurz darauf markant zurück, sodass ich mich voll auf das Geholper bergauf und auf die kleinräumige Routenwahl zwischen Wurzeln, Felsplatten, Rinnen und Geröll konzentrieren konnte, ohne völlig ausser Atem zu geraten. Über der Baumgrenze wurde der Blick dann auf die Reststrecke zur Passhöhe frei und die Zuversicht stieg, den Pass ohne Schieben erreichen zu können. So war es denn auch und ich kam geradezu beschwingt oben auf der "Furgga" an.

Der Stausee war von hier aus noch nicht zu sehen, aber dies sollte sich kurze Zeit später bei der Abfahrt auf der anderen Seite hinunter ins Valle di Lei ändern. Ein gewaltiges Panorama eröffnete sich: der rund zehn Kilometer lange, türkisfarbene Lago di Lei erstreckte sich bis zum Horizont zu schneebedeckten italienischen Gipfeln hin. Die verbleibende Strecke bis zum Stausee führte auf einem äusserst holprigen und teils steilen Pfad in engen Kurven hinab zur Staumauer. Etwaige Zweifel, ob ich nicht doch wieder den gleichen Weg auf dem Rückweg statt durch den langweiligen Verbindungstunnel fahren sollte, wurden spätestens auf diesem Streckenabschnitt restlos zugunsten des Tunnels ausgeräumt.

Die Staumauer erwies sich als grösser als gedacht, nachdem ich tatsächlich auf ihr stand bzw. auf ihr zur anderen Seite und somit über die Grenze nach Italien hinein fuhr. Die breite Mauerkrone allein war fast einen halben Kilometer lang. Am westlichen Seeufer begann nun der abenteuerlichste Teil der ganzen Tour: die 10km lange Fahrt auf dem Uferweg quer durch Italien bis zum südlichsten Punkt vom See am Pian del Nido.

Auf dem holprigen Schotterweg fuhr ich nun zügig den steilen Uferhängen entlang südwärts ins faszinierende, abgelegene und völlig menschenleere Valle di Lei hinein. Mit jedem Kilometer, mit dem ich mich von der Staumauer und von der Schweizer Grenze entfernte, verstärkte sich ein zunehmend mulmiges Gefühl. Hier hinten im entlegenen Nirgendwo gab es keinen Handyempfang mehr, es wehte ein ständiger alpin-unterkühlter Wind durchs Tal, der Nachmittag war bereits fortgeschritten und wenn das Bike hier irgendwelche grössere Zicken machen würde, dann würde es ein sehr, sehr langer Rückweg zu Fuss schon allein nur zur Staumauer, geschweige denn von dort bis hinunter in die Zivilisation werden.

Ich war mehrmals auf der langen Uferstrecke kurz davor, wieder umzukehren – man hatte ja schon den ganzen See von und die umliegenden Berge hier aus gesehen, wozu also noch lange weiterfahren? Andererseits ging mir aber auch durch den Kopf, dass ich hier vielleicht so schnell nicht mehr – wenn überhaupt jemals wieder – hinkommen würde, sich das bisschen Extraaufwand deshalb schon noch lohnen würde und überhaupt seien es ja nur noch 8, 6 oder 4 Kilometer bis zum Ziel am südlichsten Ende des Sees.

Unterwegs kam ich an verschiedenen kleinen Alphütten vorbei, die mit ihrer Steinbauweise bereits sehr italienisch anmuteten. Auch die Wanderwegweiser waren italienisch und wiesen auf Passübergänge und entfernte Ziele bis hin nach Chiavenna auf der anderen Seite der verschneiten Gebirgszüge über dem Tal hin. Entgegen jeglicher Logik nahm mein Sicherheitsgefühl nun stetig zu statt ab, je näher ich dem Ziel kam. So erreichte ich schlussendlich die Gebäude der Alpe Pian del Nido inmitten einer spektakulären Naturkulisse. Die Staumauer war von hier aus nur noch weit entfernt am Horizont zu erkennen.

Ich spazierte hier noch ein paar Meter herum, prüfte sicherheitshalber den Reifendruck nochmals, stellte den Kilometerzähler auf 10 und machte mich wieder auf den Rückweg zur Staumauer. Unterwegs war ein brausender Wasserfall aus einem Stollenloch am gegenüberliegenden Seeufer zu sehen. Wie ich später nachlesen konnte, war der Lago di Lei Teil eines Netzwerks aus Stauseen in der Gegend bis hinunter zum Sufner See, zwischen denen nach Bedarf riesige Wassermengen durch solche Verbindungs- und Ausgleichsstollen hin- und hergeleitet wurden.

Interessant war auch die optische Wahrnehmung der Staumauer, die nun schrittweise näher kam und wieder grösser wurde. Sie schien bald zum Greifen nah zu sein und doch zeigte der Bikecomputer noch 6 km verbleibende Entfernung oder Ähnliches an.

Nach sagenhaften 20 Kilometern Fahrt in der Einsamkeit dem See entlang stand ich nun wieder auf der Mauerkrone und vor dem Tunnelportal. Es ging zügig und leicht bergab durch den beleuchteten Tunnel, wobei ich nach meinen Erfahrungen mit dem schleimig-nassen Bodenbelag vom Tunnel bei der Gigerwaldsee-Staumauer vorsichtig und in sehr gemässigtem Tempo fuhr, um nicht wieder von der möglichen Rutschgefahr kalt überrascht zu werden. Der Kilometer im Tunnel war trotzdem schnell überwunden und kurz darauf stand ich wieder mit beiden Beinen in der Schweiz beim östlichen Tunnelportal.

Die lange und schöne Abfahrt auf der Strecke vom Hinweg durch das Val Ferrera war ein reiner Genuss. Ich erreichte wieder die Abzweigung bei der Roflaschlucht und bald darauf Bärenburg und Andeer. Wie schon bei den letzten Touren in dieser Gegend fuhr ich nicht durch Andeer nach Zillis zurück, sondern wählte den landschaftlich schöneren Umweg dem Hang entlang über Pignia. Weitere Touren ins wildromantische Val Ferrera und vielleicht auch nochmals ins Valle di Lei werden mit Sicherheit noch auf der Liste stehen.

Fotos

Am Eingang vom wildromantischen Val Ferrera
Der tosende Ragn da Ferrera
Beim Dorfeingang von Ausserferrera
Der mächtige Piz Miez ständig im Hintergrund
Am kleinen Stausee von Innerferrera
Blick auf die Häuser von Campsut
Auf der Bergstrasse zum Tunnel ins Valle di Lei
Auf dem Saumpfad zum Passo del Scengio
Blick vom Saumpfad aufs Tal von Avers
Auf dem Saumpfad zum Passo del Scengio
Kurz vor dem Passo del Scengio
Blick vom Pass zurück ins Val Ferrera
Auf dem Passo del Scengio
Erster Blick auf das Valle di Lei und den Stausee
Erster Blick auf das Valle di Lei und den Stausee
Die Staumauer vom Lago di Lei
Die Staumauer vom Lago di Lei
Ein halber Kilometer Fahrt auf der Mauerkrone
Blick in die Schlucht hinunter zum Val Ferrera
Blick von der anderen Mauerseite zum Passo del Scengio
Auf dem 10km-Uferweg zum südlichen Ende des Sees
Auf dem 10km-Uferweg zum südlichen Ende des Sees
Bei der Alpe Mulacetto
Wanderungen hier auf italienisch
Tosendes Wasser aus einem Verbindungsstollen
Das noch verlandete südliche Seeufer
Erster Blick auf die Alpe Pian del Nido
Das noch verlandete südliche Seeufer
Bei der Alpe Mottala kurz vor dem Ziel
Das Tourenziel rückt näher
Rauschende Bäche ergiessen sich in den See
Rauschende Bäche ergiessen sich in den See
Am Ziel bei der Alpe Pian del Nido
Rauschende Bäche ergiessen sich in den See
Der lange Rückweg zur Staumauer in der Ferne
Der lange Rückweg zur Staumauer in der Ferne
Der lange Rückweg zur Staumauer in der Ferne
Der lange Rückweg zur Staumauer in der Ferne
Der lange Rückweg zur Staumauer in der Ferne
Rückfahrt im Verbindungstunnel ins Val Ferrera
Am östlichen Tunneleingang
Blick hinunter ins Val Ferrera auf Campsut
Genussvolle Abfahrt
Genussvolle Abfahrt
Dorfeingang von Innerferrera
Wieder im weiten Talboden von Andeer und Zillis
Andeer in der Nachmittagssonne