100 Meilen nach Andermatt
Ausgangspunkt
Parkplatz am Hinterrhein bei Bonaduz.
Tourdaten
- Weglänge: 175 km (mein erster "100 Mile Ride" und überhaupt meine längste Tour bis jetzt)
- Höhendifferenz: ↑↓ 3080 Hm
Routenbeschreibung
Den Oberalppass hatte ich vor anderthalb Monaten erstmals von Disentis aus mit dem Gravelbike erreicht. Heute sollte es noch weiter gehen, nämlich nach Andermatt im Kanton Uri auf der anderen Passseite. Und zudem würde der Ausgangpunkt nicht wie beim letzten Mal bequem bei Disentis in der Nähe liegen, sondern weit weg und tiefer unten in Bonaduz unweit von Chur. Diesmal würde ich dem Vorderrhein also praktisch durch die ganze Surselva bis zu seinem Ursprung auf dem Oberalppass folgen.
Von Bonaduz nach Ilanz
Die Versamerstrasse von Bonaduz nach Versam, Carrera und Valendas mit atemberaubenden Einblicken in die Vorderrheinschlucht hatte ich im letzten Spätherbst bereits auf dem Weg zum Caumasee erkundet. Statt hinter Valendas den Rhein zur nördlichen Talseite und nach Flims/Laax zu überqueren, fuhr ich diesmal weiter zur kleinen Stadt Ilanz, einem regionalen Industriestandort. Bei Ilanz hatte ich etwa einen Drittel der rund 50 km nach Disentis hinter mir. An den Oberalppass durfte man hier noch gar nicht denken, geschweige denn an Andermatt.
Über Disentis über den Oberalppass
Von Ilanz nach Disentis fuhr ich sehr abwechslungsreich, aber wegen unzähligen kleinen Zwischensteigungen und -abfahrten über Schotterwege auch ziemlich anstrengend stets im Talgrund der Surselva und über weite Strecken in Sichtweite oder neben dem Vorderrhein. Die Autofahrt von Bonaduz nach Disentis beim letzten Mal war damals gefühlt endlos und zermürbend; mit dem Bike war die Strecke zwar auch nicht kürzer, dafür aber dank den viel schöneren Landschaftseindrücken wesentlich kurzweiliger. Wie damals mit dem Auto erreichte ich Disentis auch diesmal erst am Nachmittag und machte mich daher unverzüglich an den Aufstieg zum Oberalppass, den ich gegen halb fünf erreichte.
In rasantem Tempo fuhr ich auf der kurvenreichen Passstrasse weiter nach Andermatt, wobei das Fahrvergnügen im letzten Teil von einem Heutransporter getrübt wurde, dessen Gras mir kräftig ins Gesicht geweht wurde. Da ich mich nicht als Profi-Rennradfahrer einschätze, der auf einem Alpenpass noch lässig bergab im Gegenverkehr überholt, biss ich stattdessen auf die Zähne und versuchte, den Mund bis zum Ortseingang von Andermatt geschlossen zu halten.
Kurzurlaub in Andermatt
Für meinen Besuch in Andermatt gab es neben der sportlichen Herausforderung heute noch einen handfesten Grund: im Gepäck hatte ich einen Gutschein für ein Paar Rennradsocken und ein Cap dabei, der zwingend vor Ort im Radisson Blu Hotel einzulösen war. Das einstige kleine Bergdorf Andermatt hat sich seit dem Bau der riesigen Hotelanlagen des ägyptischen Investors Sawiri auf dem Areal der ehemaligen Schweizer Militär- und Festungsanlagen enorm gewandelt. Daher war auch die Navigation auf dem letzten Kilometer zum Eingang des Radisson Blu Hotels nicht ganz einfach. Auf vielbefahrenen Kreiseln und Überführungen kam ich zum Rand des Hotelkomplexes, der sich durch Bahngleise und Baustellen vom alten Dorfkern getrennt am Eingang der Schöllenenschlucht erhebt. Durch zugige Schluchten zwischen hoch aufragenden Apartmenthäusern erreichte ich schlussendlich Eingang und Reception des Luxushotels, zeigte den im Rucksack aufgeweichten und halb zerrissenen Gutschein vor, nahm verschwitzt und mit salzverkrusteten Armen meine Souvenirgegenstände entgegen und machte mich flugs wieder auf den Weg nach draussen.
Ich hatte eigentlich vor, noch einen kurzen Abstecher zur Schöllenenschlucht mit der Teufelsbrücke zu machen. Man hatte den Weg dorthin seit meinem letzten Besuch vor 6 Jahren allerdings umgebaut und er führte nun über den Autotunnel, durch Treppenhäuser und sonstige Verwicklungen, auf die ich dann spontan keine Lust mehr hatte. Zudem war es bereits nach 17 Uhr, die Sonne stand schon langsam tief, und in mir kroch erstmals ein ganz subtile Panik beim Gedanken auf, dass ich den langen Weg zurück nach Bonaduz eigentlich auch mit dem Rad fahren und nicht hier übernachten wollte.
Erneuter Aufstieg zum Oberalppass
Ich machte mich stattdessen also wieder auf den Weg zum Oberalppass. Zuvor galt es allerdings im Dorf zwischen den flanierenden Touristenmassen noch auf die Schnelle einen Brunnen zu finden, um meinen schon wieder gefährlich leeren Trinkbeutel für den Aufstieg aufzufüllen. Von Andermatt aus war die Passhöhe dank kürzerer Höhen- und Wegdistanz trotz müden Beinen deutlich leichter zu erreichen, und so stand ich nach 18 Uhr bei schon ziemlich tief stehender Sonne und leeren Parkplätzen zum zweiten Mal an diesem Tag auf dem Oberalppass.
Ich hatte vom Zeitgewinn her grosse Hoffnungen in die Abfahrt gesetzt (die inzwischen schon grösstenteils im Schatten lag). Sie zog sich allerdings trotz zügiger Fahrt gefühlt erstaunlich lange dahin. Als ich endlich in Disentis ankam, waren man auf der Strasse schon unterwegs zum Abendessen. Ich musste hingegen mit nun zunehmender Panik feststellen, dass mir noch über 40 km allein nur bis nach Ilanz bevorstehen würden, von den restlichen rund 24 km zurück zum Auto nach Bonaduz ganz zu schweigen.
Der längste Weg nach Hause
Nach kurzer Kopfrechnung war klar: selbst mit ambitioniertem Tempo würde ich ab jetzt noch mehrere Stunden lang in der beginnenden Abenddämmerung unterwegs sein, und zu grossen Offroad-Abenteuern war ich nach der bisherigen Anstrengung nicht mehr in der Lage (schon auf der zurückliegenden Passhöhe hatte ich die 100 km-Marke überschritten). Eine Rückkehr auf den anstrengenden Schotterwegen vom Hinweg war unter diesen Bedingungen ausgeschlossen. Stattdessen beschloss ich, mich auf der stetig leicht abfallenden Hauptstrasse bis nach Ilanz durchzuschlagen und dort die Situation neu zu beurteilen.
Die Überlegung, dass ich mit weniger Rollwiderstand auf Asphalt schneller vorankommen würde als über Wald und Wiesen, erwies sich im Prinzip als richtig. Nicht berücksichtigt hatte ich allerdings den heftigen Gegenwind, mit dem ich mich nun auseinandersetzen musste. Dieser kam für mich völlig unerwartet, da ich am Nachmittag bereits in der anderen Richtung gegen den Wind fuhr und eigentlich davon ausgegangen war, dass das Thema Wind sich auf dem Rückweg erledigt haben würde. Trotz leichtem Gefälle musste ich also rund anderthalb Stunden nochmals ziemlich in die Pedale treten, bis ich um 20 Uhr endlich Ilanz erreichte. Dieselbe Strecke, die mir im Auto bereits schon endlos lange vorgekommen war, konnte ich der Vollständigkeit halber jetzt nochmals auf dem Rad durchleben – sie war mindestens genauso endlos.
Nach einigen Minuten des Geradebiegens und Streckens am Brunnen im Zentrum von Ilanz kehrten langsam die ersten Lebensgeister wieder zurück. Bis nach Bonaduz verblieben also noch 24 km und etwas über 300 Höhenmeter auf einer Nebenstrasse; die Radbeleuchtung hatte noch Strom für Stunden; ich war inzwischen zwar ziemlich leer, der Wassertank dafür aber wieder voll. "What could possibly go wrong?" – Ich begann also langsam und stetig den Anstieg aus Ilanz heraus in Richtung Versam. Ein Dorf nach dem anderen – Castrisch, Valendas, Carrera – zog in Zeitlupe und wie in Trance an mir vorbei. Bei Versam überschritt ich endlich den letzten grosse Buckel auf dem Höhenprofil des Bikecomputers und von da an ging es mit Ausnahme einer kleinen letzten Zwischensteigung nur noch bergab bis nach Bonaduz.
Im letzten Licht der Dämmerung erreichte ich schliesslich das rettende Auto mit dem rettenden bequemen Sitz hinter dem Steuer. Nachdem ich das Bike, die neuen Socken und das Cap im Kofferraum verstaut und mich wieder gesammelt hatte, ging es nach dieser (für mich) unglaublich langen Radtour quer durch zwei Kantone dann schon im Dunkeln nach Hause.